Geboren im November 2003 begann das Leben für Bonnie so chaotisch, wie es wahrscheinlich auch irgendwann enden würde. Ihre Mutter lebte in einem Trailerpark und empfing in dem runter gekommenen Zuhause jeden Tag verschiedene Männer, weil sie auf diese Weise ihr Geld verdienen musste. Dass ihr Vater ebenfalls einer dieser Männer war, begriff Bonnie erst sehr viel später. Die ersten drei Jahre ihres Lebens bemühte sich Tamy tatsächlich noch, ihrem Kind eine gute Mutter zu sein, sie nicht zu sehr spüren zu lassen, was in ihrem Leben alles schief lief. Es eskalierte, als einer der Freier ihre Mutter grün und blau schlug, sodass schlussendlich Polizei und Rettungskräfte den Trailer betraten. Neben der verletzten Frau fanden sie mitten in Müll und Zigarettenschachteln spielend die Dreijährige in einem unzumutbarem Zustand. Bonnie sprach nicht, hatte Klamotten an, die viel zu klein - oder zu groß - waren und ihre Augen waren seltsam leer. Da Tamy durch einen Schlag am Kopf mehrere Wochen ins Krankenhaus musste und ohnehin klar war, dass sie nicht in der Lage war, sich um ihre Tochter zu kümmern, schaltete sich die Fürsorge ein und brachte Bonnie in eine Pflegefamilie. Dort lernte sie zwar sprechen, aber die jungen Eltern waren komplett überfordert mit der Aufgabe, ein traumatisiertes Kleinkind zu betreuen und ihr zu helfen, sich in einer Welt mit Regeln und Liebe zurecht zu finden.
Tamy hatte zwar dafür gesorgt, dass keiner ihrer Kunden dem Mädchen zu nahe kam, aber natürlich war in der beengten Behausung nichts vor Bonnie verborgen geblieben und das musste erst einmal aufgearbeitet werden. Also kam sie nur ein Jahr später - mit vier Jahren - in ein Heim, das mit viel Geduld und psychologischer Hilfe dafür sorgte, dass sie mit einem Jahr Verspätung ganz normal in die Schule gehen konnte. Im Unterbewusstsein war zwar noch zu viel für eine Kinderseele abgespeichert, aber in der Regel kam sie gut zurecht und fand im Heim auch Freunde. Ihre Leistungen in der Schule waren nie besonders gut, aber das hieß nicht, dass sie dumm war. Bonnie schaffte es, Zusammenhänge schnell zu erkennen, wenn sie zu ihrem Vorteil waren und handwerklich war sie wirklich geschickt. Vielleicht hätte aus ihr ein ganz normaler Teenager werden können, wenn sie erneut in eine Familie gekommen wäre, aber auch ein paar Jahre später lebte sie noch immer in staatlicher Obhut.
Bonnie stellte alles in Frage: Regeln, Aufgaben, Lüge oder Wahrheit? Ihr Urvertrauen hatte in den ersten drei Lebensjahren wirklich gelitten und es brauchte Zeit und Zuneigung, um dieses von ihr zu gewinnen. Neben ihrer zuständigen Betreuerin im Heim - Monica - gelang das in den kommenden Jahren nur Lysander. Auf ihn traf sie, als er mit etwa 11 Jahren zu ihnen gebracht wurde. Gleichalt und mit ähnlicher Vorgeschichte - auch, wenn er es anscheinend besser getroffen hatte - verstanden sie sich ziemlich schnell und wuchsen zu einem Team zusammen.
Die Freundschaft bedeutete Bonnie wirklich viel und half ihr mehr als alles andere, etwas über Sozialverhalten und Beziehungen zu lernen. Doch das hatte auch Schattenseiten - selbst, wenn Lysander und sie das so nicht genannt hätten. Sie stifteten sich zu allerhand Unsinn an, schwänzten die Schule, stellten die Regeln noch mehr in Frage und testeten ihre Grenzen. Fremde Erwachsene bekamen von ihnen wenig Respekt, sondern blöde Sprüche hinterher geworfen und wahrscheinlich hätte aus ihnen nicht viel werden können, als ein paar rebellische Teenager, die einmal hinter Gittern enden würden. Bonnies unschuldiges Aussehen war ihnen dabei sogar oft nützlich, aus schwierigen Situationen doch noch mal heraus zu kommen.
Für Bonnie hätte es ewig so weiter gehen können, aber das Schicksal hatte andere Pläne und so wurden die Freunde getrennt. Das Versprechen, in Kontakt zu bleiben, ließ sich nicht wirklich einhalten und trotzdem hatte sie Lysander nie vergessen.
Die nächsten Jahre wurden noch anstrengender. Die Hormone spielten mit, die Teenagerphase. Sie brachte sich in immer schwierigere Situationen, fast, als wäre sie auf der Suche nach der Gefahr. Und die sollte sie finden, als sie Kyle traf. Komplett anders als Lysander, aber auch mit ihm verband sie eine Freundschaft und schließlich sogar mehr als das. Sie ging mit ihm eine Beziehung ein, die toxischer nicht hätte sein können. Sie taten sich nicht gut, er manipulierte sie und Bonnie wurde nicht müde, ihn zu provozieren. Irgendwann wurde sie das erste Mal von der Polizei zurück zum Heim gebracht. Kyle war schon älter und fiel nicht mehr unter das Jugendstrafrecht, sodass er ins Gefängnis kam, nachdem man ihm einige Autodiebstähle hatte nachweisen können. Für Bonnie blieb es - auch Dank Monica - bei Sozialstunden, die sie bis zu ihrem 18. Geburtstag ableistete. Eine Bedingung war, dass sie ihren Schulabschluss machte, was ihr so einigermaßen gelang. Und dann stand sie plötzlich allein da.
Die Fürsorge fühlte sich nicht mehr zuständig, Verwandte gab es nicht. Ob ihre Mutter noch lebte, konnte sie nicht sagen, aber eigentlich wollte sie diese Frau auch nicht kennen lernen. Bonnie jobbte in ein paar Supermärkten, nahm eine Putzstelle an oder trug Pakete aus, um Geld zu verdienen. Ohne genaues Ziel, kratzte sie ihre Kohle zusammen und machte sich auf den Weg nach Kansas. Sie hatte keine Ahnung, wo Lysander war und ob er sich überhaupt noch an sie erinnern würde? Wahrscheinlich konnte sie ihn nicht einmal finden ... trotzdem war das irgendwie besser, als darauf zu warten, dass Kyle entlassen wurde und seine Drohung wahr machte, sie dafür zu bestrafen, dass sie gegen ihn ausgesagt hatte.
Nur mit einem Rucksack bestieg sie also das Flugzeug. Ihr erster - und wahrscheinlich letzter - Flug.